
Duisburg: Katastrophe bei der Love Parade
Katastrophen "Es war Funkstille"
SPIEGEL: Herr Walter, Sie sind einer der wichtigsten Zeugen des Duisburger Desasters. Als Crowd-Manager saßen Sie im Container vor der Eingangsrampe. Von dort sollten Sie die Menschenmassen im Eingangsbereich kanalisieren - am neuralgischen Punkt des Events. Haben Staatsanwälte oder Kriminalbeamte Sie schon befragt?
Walter: Aufgrund der heiklen Situation stehe ich den Ermittlern aktuell nicht zur Verfügung. Ich reklamiere für mich den Paragrafen 55 der Strafprozessordnung ...
SPIEGEL: ... das Recht, die Aussage zu verweigern, wenn man sich selbst belasten würde. Aber uns stehen Sie Rede und Antwort?
Walter: Ja, weil ich wie andere auch eine moralische Verantwortung habe. Ich kann die Menschen sehr gut verstehen, die jetzt wütend sind, dass sich niemand der Verantwortung stellt. Ich persönlich möchte das mit diesem Interview.
SPIEGEL: Sie sind promovierter Psychologe. Haben Sie überhaupt Erfahrung mit solchen Großveranstaltungen?
Walter: Ich komme aus dem Krisenmanagement und bin seit zehn Jahren im Geschäft. Ich habe bei den Marathons in Köln und Bonn oder den "Kölner Lichtern", großen Veranstaltungen mit mehreren hunderttausend Besuchern, mitgewirkt.
SPIEGEL: Ein Crowd-Manager muss eng mit den privaten Ordnungskräften zusammenarbeiten, aber auch mit der Polizei. Wie sah der erste Kontakt aus?
Walter: Am 6. Mai hat der Veranstalter mir sein Konzept vorgestellt, dann gab es am 22. Juni eine Ortsbegehung und am 14. Juli ein Meeting im Duisburger Polizeipräsidium mit allen Führungsbeamten, die zuständig sein sollten. Etwa 30 Personen.
SPIEGEL: Gab es Kritik an dem Konzept, zum Beispiel daran, dass Ein- und Ausgänge über dieselbe Rampe liefen, wo es dann zum tödlichen Gedränge kam?
Walter: Nein. Beim zweiten Termin habe ich das Einlasssystem durch die beiden Tunnel, von Westen und von Osten, vorgestellt und gesagt, das sei sehr heikel. Man solle Ein- und Ausgang trennen, könne die Leute nicht dort herauslassen, wo sie hereingekommen sind. Das würde ab einem bestimmten Zeitpunkt, da dachte ich aber an 21, 22 Uhr, nicht funktionieren. Es gab in der Runde keinen Widerspruch.
SPIEGEL: Ihr Arbeitsplatz am 24. Juli war ein einfacher Baucontainer. Wie sah der von innen aus?
Walter: Es gab ein kleines Fenster, zwei Monitore mit PC; ich hatte Zugriff auf alle 16 Überwachungskameras auf dem Gelände. Neben mir saß ein Polizist, der Verbindungsbeamte zur Polizeiführung.
SPIEGEL: Welchen Dienstgrad hatte er?
Walter: Weiß ich nicht. Aber er hatte keine Befehlsgewalt.
SPIEGEL: Wie waren Sie ausgerüstet?
Walter: Ich hatte zwei Funkgeräte, um mit der Zentrale und meinen Leuten sprechen zu können, und ein Handy. Der Beamte hatte ebenfalls ein Handy.
SPIEGEL: Kein Funkgerät, um mit seiner Einsatzleitung kommunizieren zu können?
Walter: Kein Funkgerät.
SPIEGEL: Eigentlich sollten die Eingänge zur Love Parade um elf Uhr geöffnet werden, es dauerte aber bis kurz nach zwölf Uhr, weil auf dem Veranstaltungsgelände noch gearbeitet wurde. Hatte diese Verzögerung Auswirkungen?
Walter: Ab 9.45 Uhr waren wir Stand-by. Ab elf Uhr haben wir gewartet, mehrfach mit unserer Security-Zentrale gesprochen, um die Erlaubnis zur Öffnung der Schleusen draußen vor den Tunneleingängen zu bekommen. Auf der Westseite gab es schon früh extremen Andrang, und einige Besucher wurden aggressiv. Da war schon richtig was los. Nach der Freigabe durch die Zentrale habe ich um 12.02 Uhr Order gegeben, alle Schleusen zu öffnen, an beiden Zugängen. Um den ersten Druck zu reduzieren, haben wir eine Stunde lang die Menschen aufs Gelände kommen lassen. Das war zu diesem Zeitpunkt problemlos möglich.
SPIEGEL: Standen vor den Schleusen auch Polizisten?
Walter: Natürlich, jeweils eine Hundertschaft auf der einen und auf der anderen Seite.
SPIEGEL: Was geschah nach zwölf Uhr?
Walter: Es kamen viel mehr Besucher als erwartet. Um 13 Uhr habe ich die Sicherheitsleute angewiesen, die Schleusen wieder zu schließen.
SPIEGEL: Komplett?
Walter: Nein, nur vereinzelt, um den Durchfluss zu regulieren. Auf jeder Seite hatten wir zu diesem Zeitpunkt 6 Schleusen geöffnet, 6 von insgesamt 16.
SPIEGEL: Das hat funktioniert?
Walter: Ja, aber dann kam zu meiner Überraschung die Anweisung eines Polizeiführers, alle Schleusen auf der Westseite durch die Ordner öffnen zu lassen.
SPIEGEL: Sie hatten doch eben noch gefordert, den Druck durch die Menschenmenge zu reduzieren. Also Schleusen zu schließen, um den Strom der Besucher zu drosseln.
Walter: Exakt. Und der Polizeiführer sagte - alles auf! Er war weisungsbefugt, auch mir gegenüber.
SPIEGEL: Die Polizei erklärt, für die Sperren sei ausschließlich der Veranstalter verantwortlich.
Walter: Das ist richtig. Die Polizei ist für den öffentlichen Raum verantwortlich, nur: Der Andrang auf der Westseite war zu diesem Zeitpunkt bereits größer als erwartet. Irgendwann wurde dieser Druck zu groß. Zäune wurden umgeworfen, es kam zu Rangeleien zwischen der Polizei und Ravern, die aufs Gelände wollten. Daher kann ich diesen Beamten auch verstehen.
SPIEGEL: Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, hier läuft etwas gewaltig schief?
Walter: Das fing zu diesem Zeitpunkt an, und bald verstärkte sich der Eindruck. Gegen 14 Uhr war dann auch noch Schichtwechsel bei der Polizei, zu mir in den Container kam ein neuer Verbindungsbeamter.
SPIEGEL: Wie war der ausgerüstet?
Walter: Er hatte nur ein Handy.
SPIEGEL: Wieder kein Funkgerät?
Walter: Nein, definitiv nicht.
"In Wellenbewegungen wurden die Menschen an den Zaun gedrückt"
SPIEGEL: Im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags am vergangenen Mittwoch ist offiziell zu Protokoll gegeben worden, der Beamte sei sowohl mit einem Handy als auch mit einem Funkgerät ausgerüstet gewesen.
Walter: Damit bezichtigt man mich ja der Lüge. Ich bleibe bei meiner Aussage. Punktum.
SPIEGEL: Wenn Ihre Version stimmt - welche Auswirkungen hatte es, dass der Beamte kein Funkgerät hatte?
Walter: Schon Stunden zuvor war eine Kommunikation über Handy wegen Netzüberlastung kaum mehr möglich. Und es wurde immer voller. Wir mussten nun handeln. Ich brauchte, den Absprachen gemäß, nun die Unterstützung der Polizei. Ich brauchte den zuständigen Polizeiführer, und zwar ganz schnell. Nur der hätte entscheiden können, das Gelände endgültig abzuriegeln. Das war gegen 14.30 Uhr.
SPIEGEL: Was geschah dann?
Walter: Wir haben beide versucht, den Polizeiführer irgendwie zu erreichen. Ich über die Leitstelle der Security, der Verbindungsbeamte übers Handy.
SPIEGEL: Wie lange hat es gedauert, Kontakt zu dem Polizeiführer zu bekommen?
Walter: Geschätzte 45 Minuten.
SPIEGEL: Was geschah in der Zwischenzeit?
Walter: Der Zulauf hatte sich enorm verstärkt. Oben, am Ende der Hauptrampe, stauten sich die Leute und kamen nicht mehr aufs Gelände. Ich habe die Ordner draußen an den Tunneleingängen gebeten, so viele Schleusen wie möglich zu schließen. Als der Polizeiführer in meinem Container war, habe ich ihm Maßnahmen vorgeschlagen - unter anderem sollte die kleine westliche Rampe freigegeben werden, die eigentlich als Ausgang gedacht war. So sollte ein zusätzlicher Eingang geschaffen werden. Gleichzeitig sollten die Beamten helfen, die Einlassschleusen vor den Tunneleingängen Ost und West zu sichern.
SPIEGEL: Warum?
Walter: Wenn der Zustrom von beiden Seiten so weit reduziert worden wäre, dass die Masse, die schon auf der Rampe stand, handhabbar gewesen wäre, hätten wir oben - und nicht wie dann geschehen unten - auf der Rampe eine Polizeikette errichtet. Dann hätten wir oben mit den Pushern, also den Ordnern, die die Menge aufs Gelände schieben sollten, und der Polizei die sich oben auf der Rampe stauenden Menschen übers Gelände nach rechts und links drängen können.
SPIEGEL: Tatsächlich liefen nun aber viele Raver, die nach Hause wollten, der Polizeikette sogar in den Rücken. Haben Sie nicht mit dem Rückstrom Tausender Menschen gerechnet? Schließlich war die Eingangsrampe ja auch gleichzeitig der Ausgang.
Walter: Das ist richtig.
SPIEGEL: Wurden vorher keine entsprechenden Überlegungen angestellt?
Walter: Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass ein größerer Rücklauf erst gegen 17 oder 18 Uhr einsetzen würde. Das war die Ansage, die ich vom Veranstalter hatte.
SPIEGEL: Jetzt sind wir in der Zeit 16 Uhr, 16.01 Uhr. Die Polizeikette hat sich unten aufgebaut. Was war die Folge?
Walter: Das Publikum, das rauswollte, hat sich in diesem Bereich gestaut. Es gab oben auf der Rampe keine großen Ausgangsschilder, wie es eigentlich besprochen war. Die Leute sind einfach den Weg gegangen, den sie gekommen sind.
SPIEGEL: Die Polizeikette an der richtigen Stelle, oben auf der Rampe, hätte die Situation Ihrer Meinung nach entzerrt?
Walter: Das hätte mehr Platz geschaffen. Aber noch mal: Ich kann der Polizei keine Anweisungen geben, ich kann keine Polizeikette anfordern, wo auch immer.
SPIEGEL: Wie viele Menschen standen jetzt vor und hinter der Kette?
Walter: Anfangs einige hundert, dann, gegen 16.20 Uhr, kam ein großer Pulk runter, jetzt waren es wohl 1500. In dieser Phase fuhr ein Rettungswagen von der Westseite her in den Tunnel. Der Fahrer sah nach ein paar Metern, dass es nicht weiterging, er wendete. Als die Sperre für den Wagen ein zweites Mal aufgemacht wurde, war die Masse nicht mehr zu halten. Das führte dazu, dass von der Westseite der Tunnel geflutet wurde. Es kam ein großer Schwung Menschen auf die Rampe. Und jetzt sind die Ereignisse in Bewegung geraten.
SPIEGEL: Waren Sie und der Verbindungsbeamte noch im Container?
Walter: Als der Druck weiter zunahm und die Ersten begannen, am Container hochzuklettern, sind wir raus. Das war der Zeitpunkt, als die Polizeikette auf der Rampe aufgelöst wurde. Zusammen mit anderen Polizeibeamten haben wir uns gegen den Zaun vor dem Container gestemmt, in Wellenbewegungen wurden die Menschen immer wieder an den Zaun gedrückt.
SPIEGEL: Wie viele Polizisten waren es?
Walter: Anfangs etwa sieben. Als die Situation richtig kritisch wurde, haben sich einige in Sicherheit gebracht.
SPIEGEL: Die sind weg?
Walter: Hoch auf den Container und dann hinauf auf die obere Ebene. Vor dem Zaun sind Leute kollabiert, wir haben sie in den sicheren Bereich gezogen. Mein Verbindungsbeamter hat ein Mädchen über die zwei Meter hohe Absperrung gehoben. Für mich ist der Mann ein Held.
SPIEGEL: Hatten Sie Angst um Ihr Leben?
Walter: Ja, ab der vierten Welle.
SPIEGEL: Wann kam die Meldung über den ersten Todesfall?
Walter: Die brauchte ich nicht. Es war Funkstille. Es gab einfach nichts mehr zu sagen. Als es leerer wurde, konnte ich meinen Bereich verlassen. Ich bin dann erst einmal mit Wasser rumgegangen und habe Leuten, die dehydriert waren, zu trinken gegeben. Ich habe dann gesehen, dass Rettungssanitäter, die zu Fuß gekommen sind, versuchten, Menschen wiederzubeleben. Mehrere Minuten lang. Da wusste ich, dass es Tote gegeben hat.
SPIEGEL: Haben Sie bei diesem Einsatz Fehler gemacht?
Walter: Ich hätte stärker darauf drängen müssen, dass der Polizeiführer schneller zum Container kommt, um Maßnahmen einzuleiten. Ich hätte dringlicher auf die Probleme hinweisen müssen.
SPIEGEL: Was wollen Sie jetzt machen?
Walter: Ich möchte mich meiner Verantwortung stellen. Ich möchte die Rolle eines Vermittlers einnehmen, Menschen, die psychologische Hilfe benötigen, mit Menschen, die helfen können, zusammenbringen. Ich habe bereits Kontakt zum Land NRW und zu einem Netzwerk erfahrener Psychologen aufgenommen, die auch die Zeugen und Opfer nach dem Amoklauf in Winnenden betreut haben. Die haben bereits Unterstützung angeboten.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie der richtige Mann dafür sind?
Walter: Ich bin Psychologe, aber kein Therapeut. Daher kann und will ich wegen meiner eigenen Betroffenheit und meines professionellen Verständnisses selbst keine Betreuungen durchführen. Aber ich kann Kontakte vermitteln.
SPIEGEL: Haben Sie sich schuldig gemacht?
Walter: Das müssen andere klären.